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Beim Anblick dieses einmaligen Lincoln Indianapolis erblasst selbst der Jet-Set von St. Moritz

Wenn Sie einen Besuch bei The Ice St. Moritz planen, werden Sie vom Anblick dieses einzigartigen Lincoln Indianapolis begeistert sein. Weil er wahrscheinlich alles übertrifft, was der berühmte Jet-Set-Treff an diesem Wochenende zu bieten hat.

Mit ihrem Sextett aus seitlich angebrachten Fake-Auspuffrohren, der rüsselförmigen Frontpartie und den flugzeugähnlichen Panorama-Fenstern wirkt die einmalige Designstudie auch heute noch atemberaubend futuristisch. Man stelle sich vor, wie extrem sie erst gewirkt haben muss, als sie 1955 auf dem Turiner Salon erstmals enthüllt wurde.

Wie so oft bei solchen „Konzeptstudien“ entstand das Design in Windeseile – in diesem Fall in nur fünf Monaten. Gezeichnet wurde das in einem flammenden Orange lackierte Modell von Gian Paolo Boano, dem talentierten 20-jährigen Sohn des berühmten Karosseriebauers und Ex-Ghia-Chefs Felice Mario Boano, der seine eigene Carrozzeria Boano 1954 gegründet hatte. Gian Paolo war mit einem ehemaligen Ford-Mitarbeiter befreundet. Dieser schlug ihm vor, dass die Boanos ein dramatisches und futuristisches Design auf der Grundlage einer Ford-Konzern-Bodengruppe entwerfen könnten, das als Ausgangspunkt für eine potenziell lukrative Geschäftsverbindung zwischen der jungen Designschmiede und dem riesigen US-Hersteller dienen könnte.

So gelangte Gian Paolo Anfang 1955 in den Besitz eines Chassis der Ford-Luxusmarke Lincoln und begann mit ein paar großformatigen Skizzen, die er und die erfahrenen Handwerker der Carrozzeria mit einer Kombination aus Stahlrohren und Blech zum Leben erweckten. Die stark aus- und vorgewölbte Motorhaube wurde von entsprechend langen Radkästen flankiert, die jeweils zwei übereinander angeordnete Scheinwerfer trugen und an deren Enden drei Pseudo-Auspuffrohre ostentativ hervortraten. Als deren Gegenpol dienten große Lufteinlässe mit fünf Chromstreben am vorderen Ende der hinteren Kotflügel. Diese wiederum mündeten in ein abfallendes Heck und ein Dach, das mit seiner Kabinenhaube und der extrem nach vorn gebogenen Heckscheibe die Einflüsse des Jet-Zeitalters nicht verbergen konnte.

Das 2+2-sitzige „Cockpit“ war im Stil der karierten Flagge in Schwarz und Weiß gehalten (Sitze und Türverkleidungen). Der ebenfalls orange lackierte Instrumententräger wurde im „wrap-around“-Stil bis in die Türbrüstungen weitergeführt) und eine markante, abgestufte Mittelkonsole trennte die Schalensitze.

Da die Carrozzeria Boano nur wenige Kilometer westlich von Turin lag, war es ein Leichtes, die frisch fertig gestellte und frisch getaufte „Indianapolis Exclusive Study“ zum 37. Salone dell'Automobile zu bringen. Wo sie die Besucher begeisterte und den anwesenden Automobiljournalisten viel Stoff für ihre Berichterstattung lieferte. Das Magazin „Auto Age“ machte den Wagen sogar zum Titelstar seiner November-Ausgabe und lockte ihre Leser mit der verlockenden Überschrift: „Ist das der nächste Lincoln?“

Die Antwort auf diese Frage war ein klares Nein. Man munkelte jedoch, dass Ford-Boss Henry Ford II. von dem Auto so angetan war, dass er anordnete, es für sein Unternehmen zu kaufen und in die USA zu verschiffen (möglicherweise wurde es sogar zu seinem persönlichen Eigentum). Die Legende besagt, dass Ford den Wagen anschließend an den Schauspieler Errol Flynn verschenkte, was sich aber nicht erhärten ließ. Auf alle Fälle wechselte der Indianapolis mehrfach den Besitzer, zunächst an einen in Boston (Massachusetts) und dann an einen anderen in Manchester, New Hampshire. 

Im folgenden Jahrzehnt gab es weitere kurzzeitige Besitzerwechsel, bevor Sammler Thomas Kerr das Auto erwarb. Er hatte 40 Jahre seines Lebens damit verbracht, die besten Packards aufzuspüren, die er finden konnte. Diese Hingabe an die Marke Packard bedeutete, dass der Indianapolis zunächst fast 20 Jahre lang vor sich hin dümpelte. Bis Kerr, angetrieben durch neu gewonnenes Wissen um die Bedeutung des Wagens, den Top-Restaurator Jim Cox von der Firma Sussex Motor & Coachworks in Pennsylvania beauftragte, den Wagen in den Zustand zu versetzen, „den Gian Paolo Bueno 1955 angestrebt hätte, wäre ihm die Zeit dafür geblieben.“ Denn man muss wissen, dass Showautos damals nur für die Dauer der Messe halten mussten, sie wurden schnell zusammengeschustert mit dem einzigen Ziel, ein paar Tage dazustehen und bella figura zu machen.

Es dauerte zwei Jahre, bis Cox mit seiner Arbeit fertig war. Unter anderem machte er die Instrumente und die Servolenkung funktionstüchtig und baute einen kraftvollen 5,5-Liter-V8 mit 225 PS und ein Viergang-Automatikgetriebe ein. Dazu kamen zahlreiche Feinarbeiten an der Karosserie, um ungleich lange Kotflügel, ein schiefes Dach oder eine schlecht ausgerichtete Motorhaube zu richten.

Die sorgfältige Restaurierung machte sich sofort bezahlt und ermöglichte es dem Besitzer, 2001 an der Pebble Beach Tour d'Elegance teilzunehmen und den ersten Preis in der Klasse Postwar Custom Coachwork“ zu gewinnen. Der Indianapolis gewann weitere Preise auf Amelia Island, in Bethlehem, Greenwich und anderen Orten, bevor er in die in Texas befindliche Sammlung des 2021 verstorbenen Elektronikmilliardärs Paul Andrews und dessen Sohn Chris gelangte.

Die Andrews waren dafür bekann, ihre Autos lieber zu fahren als sie nur anzuschauen. Und so nahmen sie 2013 mit dem Indianapolis erneut an der Tour d'Elegance teil und gewannen die Pebble Beach Lincoln-Trophäe. 2015 trennten sie sich dann von dem Unikat, als sie ihre große Sammlung im Rahmen einer Auktion von RM Sotheby’s Äs zu einem rekordverdächtigen Erlös von 54 Millionen Dollar „ausdünnten“. 

Heute ist der Indianapolis Teil der spektakulären „Pearl Collection“ des Schweizer Enthusiasten Fritz Burkar. Kürzlich wurde er als „der heißeste aller Hot Rod Lincolns“ bezeichnet – und wir gehen davon aus, dass er bis zum Ende von The Ice St Moritz am Samstagabend alles in Schutt und Asche gelegt haben wird.

Fotos von Rémi Dargegen für Classic Driver © 2023