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Design Analyse: Beim Mercedes-Benz SL R107 liegt alles in der Familie

Wir starten unsere neue Serie mit Designanalysen des Automobildesigners Robert Forrest mit einem genaueren Blick auf den bemerkenswert zeitlosen Mercedes-Benz SL der Serie R107.

Auch wenn Sie mal kurz blinzeln, werden Sie es trotzdem nicht übersehen. Ein Merkmal, so markant wie ein Habsburger Kinn mit dessen Unterlippe. Der spitze Kühlergrill des R107 erinnert an die Kühlermaske des „Blitzen Benz“, der 1909 mit Victor Héméry in Brooklands einen neuen Geschwindigkeitsweltrekord (205 km/h) aufstellte. Dass ein Element des „Blitzen“ über 60 Jahre später wieder auftaucht, ist Folge einer Genealogie, bei der Designer markante Merkmale früherer Modelle neu aufgreifen, um die aktuellen Fahrzeuge zu emotionalisieren. Nicht alle Merkmale werden jedoch von einer Generation zur nächsten weitergegeben, vielmehr können ganze Epochen übersehen werden. So spielen die generationsprägenden Baureihen W123 und W124 in der heutigen Formensprache keine Rolle mehr. Ebenso wenig wie der R107.

Trotz der langen Tradition der SL-Baureihe – sie feiert im Jahr 2024 ihr 70-jähriges Jubiläum – ist keine Generation wie die andere. Die unter Leitung von Paul Bracq gestylte „Pagode“ (W113) wirkte neben dem 300 SL Flügeltürer zunächst wie ein Mauerblümchen, doch derenQualitäten begann man Jahre später und erst recht zu schätzen. Der 1971 nachfolgende R107 war ein einfacher Schuhkarton, mit dem Familiensilber geschmückt, um amerikanische Käufer anzulocken. Eine Schönheit ist er streng genommen nicht, aber um Geschmack ging es nie: Der SL ist ein Statement des Wohlstands. 

Über die gesamte Länge der Karosserie zieht sich eine Gummi- und Chromleiste, ein seltsam pragmatisches Merkmal für ein Auto, das auf dem Parkplatz abgestellt wird. Ein Optimist könnte hier Parallelen zur verchromten „Wasserlinie“ des Flügeltürers sehen, ein Romantiker zu den abgesetzten Flanken des Vorkriegs-Silberpfeils W25. Bruno Sacco, der 1975 die Leitung des Design-Studios von Friedrich Geiger übernommen hatte, widerstand der Versuchung, sie im Zuge des Facelifts von 1985 gegen die nach ihm benannten und erstmals 1979 im W 126 (S-Klasse) eingeführten „Sacco-Balken“ zu tauschen. Die kamen dann erst 1989 im „R129“, dem ersten komplett von Sacco verantworteten SL. Die eigenwilligen, geriffelten Partien unterhalb der seitlichen Gummi-Chromleisten dagegen sind den Flanken der damaligen S-Klasse nachempfunden. Als wollten sie das Gleiten der Bleistifte der Designer auf dem Rechenschieber einfangen. 

Das im Radstand verlängerte Coupé SLC hat keine B-Säule und wie bei allem Mercedes voll versenkbare hintere Seitenscheiben. Damit das möglich war, erforderte es eines Kunstgriffs: die stilistisch umstrittenen, doppelt verglasten „Sichtblenden“ mit den eingebauten Lamellen. Sie unterteilten das Seitenfenster so, dass der vordere, bewegliche Teil tatsächlich ganz versenkt werden konnte.

Im Innenraum werden die tadellosen Sichtlinien durch schlanke Säulen unterstützt, die nur einen Fingerbreit vom Lenkrad entfernt stehen. Die drei kreisförmigen mittleren Belüftungsöffnungen sollten stilbildend für spätere Mercedes werden, über ihnen geht der Blick über die weit ausladende Motorhaube gen Horizont. Die V8-Motoren treiben den Wagen mit überraschender Gelassenheit voran, aber lupft man das Gaspedal bei hoher Geschwindigkeit, könnte man an die Luftbremse des 300 SLR denken: Die Aerodynamik sollte schon beim nächsten SL (Cw-Wert: 0,32) eine größere Rolle spielen.

 

Auch wenn der R107 keinen Einfluss auf den heutigen SL hat, sollte man berücksichtigen: im Streben danach, einen Markt mit wohlhabenden Kunden zu umgarnen, ist er im Geiste nah an den Maybach, die heute in China um Kunden buhlen. Vier Generationen später verkörpert er noch immer die pure Essenz der Marke.