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Zeit mit Brunner: Neue Werkstoffe in der Uhrmacherei



Verbringen Sie Zeit mit Gisbert Brunner! Der Fachautor und Uhren-Experte berichtet regelmäßig über die vielschichtige Welt der Uhren. In dieser Woche beleuchtet Brunner, welche Möglichkeiten moderne Werkstoffe wie Silizium oder Ag5 in der Uhrmacherei bieten und welchen Einfluss dieser Wandel auf das Zeitgeschehen haben wird.

Mechanik mit Silizium

Jahrhundertelang beherrschten Messing, Stahl und synthetischer Rubin die Werkefertigung in der Uhrmacherei. Seit 2001 weht ein neuer Wind in diesem Bereich – erstmals kam Silizium in der Uhrmacherei zum Einsatz. Vorreiter ist die Manufaktur Ulysse Nardin aus dem Jurastädtchen Le Locle. Für beide Ankerräder ihrer vollständig neu konstruierten „Dual Direct Hemmung“ im Modell „Freak“, wurde der Werkstoff Silizium – aus dem sonst Computerchips gefertigt werden – verwendet. In monokristalliner Form besitzt es die gleiche Kristallstruktur wie Diamant. Es ist sehr hart und hat ein geringes Gewicht: 60 Prozent härter und 70 Prozent leichter als Stahl. Silizium ist amagnetisch, korrosionsfest und verfügt auch ohne aufwendige Nachbearbeitung über eine extrem glatte, die Reibung beträchtlich reduzierende Oberfläche. Letztere Eigenschaft erlaubt es, auf den Einsatz von Öl zu verzichten. Deshalb zeichnet sich auch eine Sonder-Edition des 2003 vorgestellten Armbandweckers „Sonata“ – Beiname „Silicium“ – durch die umfassende Verwendung dieses Werkstoffs aus. Sowohl Zifferblatt, Anker (mit integriertem Sicherheitsstift), Rolle (mit integriertem Impulsfinger) und Unruhspirale wurden aus diesem modernen Werkstoff gefertigt. Die Sonata ist in einer auf jeweils 500 Exemplare limitierten Edition in Weiß- oder Rotgold erhältlich.

www.ulysse-nardin.com

Die Armbanduhr der Zukunft

Hinter der Marke de Bethune stehen der rund sechzigjährige Italiener David Zanetta und der etwa 15 Jahre jüngere Uhrmacher Denis Flageollet. Das Duo ist mit allen Uhren-Wassern gewaschen. Beide waren bei der Komplikationenschmiede „Téchnique Horlogère Appliquée“ (THA) engagiert, bevor sie sich mit de Bethune in die Selbständigkeit verabschiedeten. Seinen Traum von der Uhrmacherei der Zukunft realisiert das Duo unter anderem mit der so genannten „Dream Watch One“. Das Weißgold-Oeuvre stellt die junge Manufaktur ihrer Philosophie entsprechend nur in homöopathischen Kleinmengen her. Im kreisrunden Fenster über einer markanten Mondkugel oszilliert tatsächlich eine Unruh. Allerdings nimmt man deren Oszillationen nicht wahr. Der kleine „Taktgeber“ besteht – erstmals in der Uhrengeschichte überhaupt – aus einer Siliziumscheibe, die aus Massegründen ein Ring aus dem Edelmetall Platin mit hohem spezifischem Gewicht umfängt. Sollte das Uhrwerk trotz dieses innovativen, gegenüber Temperaturschwankungen weitgehend resistenten Schwingers einmal ungenau gehen, können die stolzen Besitzer das Werk auch ohne Uhrmacher in einem Bereich von täglich +/- 15 Sekunden eigenhändig regulieren.

www.debethune.ch
Silizium-Opulenz bei einer Traditionsmanufaktur

Wer die dritte Zündstufe des Advanced-Research-Innovationsprogramms von Patek Philippe sein Eigen nennen möchte, muss sich nolens volens für viel Geld auf dem „Second-Hand-Markt“ bedienen. Die Uhren-Edition ist längst ausverkauft! Wie schon die Vorläufer die Referenzen 5250 und 5350 beruht auch die Referenz 5450 auf den positiven Erfahrungen mit dem von Patek patentierten Silizium-Werkstoff „Silinvar“. Im Gegensatz zu Komponenten aus reinem Silizium benötigt dieser keine Oberflächenbeschichtung. Die in der Referenz 5450 neue – ausgesprochen effiziente – „Pulsomax“-Hemmung mit einem „Silinvar“ Ankerrad und Anker war daher nur eine logische Konsequenz. Die um 15 % gesteigerte Energieübertragung erhöht die Gangautonomie um beachtliche 30 %. Infolge dieses Zugewinns hat Patek Philippe die Räder des ganzen Automatikkalibers 324 S IRM QA LU neu konzipiert. Die Hemmung kooperiert mit „Spiromax“, einer Unruhspirale ebenfalls aus „Silinvar“, welche trotz ihrer flachen Ausprägung ähnlich konzentrisch „atmet“ wie eine Breguetspirale mit hochgebogener Endkurve. Auch hier ermöglicht Silizium den Wegfall eines Schmiermittels und erlaubt so längere Pausen zwischen den Serviceintervallen. Wie Eingangs bereits angedeutet dürfte es sich als ein Ding der Unmöglichkeit herausstellen, in den Besitz eines der 300 Exemplare der Referenz 5450 zu gelangen. Das Wertpotenzial dürfe dann allerdings freilich dem eines historischen Ferrari-Rennwagens entsprechen.

www.patek.com
High-Mech vom Traditionalisten

Silizium beseelt mittlerweile auch die Uhrwerke des großen Traditionalisten auf dem Uhrenmarkt: Breguet. Auf Abraham Louis Breguet, den möglicher Weise größten Uhrmacher aller Zeiten, gehen bahnbrechende Erfindungen wie der Tourbillon, die Stoßsicherung und die Unruhspirale mit hoch gebogener Endkurve zurück. Klar, dass der Technologie-Multi Swatch Group, welcher über die Marke Breguet gebietet, auch mit seinem klassischen Zugpferd mit von der Silizium-Partie sein möchte. In flachen Uhrwerken gestattet das hochelastische Silizium flache Spiralen mit den positiven Eigenschaften der vergleichsweise hoch bauenden Exemplare des Gründervaters Abraham-Louis Breguet. Breguet verknüpft hier die Tradition mit der Moderne, durch die Verwendung von Silizium für das Ankerrad, den Anker und die Unruhspirale. Debütant ist das 11½-linige zwei-Federhaus-Kaliber 591 A mit 25 Steinen sowie 38 Stunden Gangautonomie, welches bekanntlich auf dem legendären Longines-Kaliber L 990 basiert und aus konstruktiven Gründen nach einer Flachspirale verlangt. Hier kann Silizium seine Vorteile voll ausspielen, weil die Paarung aus Material und Kurvenform das gleiche bewirken wie das hochgebogene Ende besagter Breguetspirale. Nachdem die frei schwingende Silizium-Spirale eine exakt definierte, aber völlig unveränderliche Länge besitzt, verwendet Breguet eine Unruh mit variablem Trägheitsmoment. Sie lässt sich mit Hilfe von vier goldenen Masseschrauben exakt auf eine Frequenz von vier Hertz oder stündlich 28.800 Halbschwingungen einregulieren. Wie es sich gehört, entfaltet das Uhrwerk seine Fähigkeiten in einem unverkennbaren Breguet-Gehäuse. So lebt die Tradition auch im Zeichen der Innovation weiter fort.

www.breguet.com
Die passende Uhr zum Auto

Die Traditionsmanufaktur Audemars Piguet zeigt wie sich die enormen technischen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts mit der klassischen Uhrmacherei verbinden lassen. Die Millenary MC 12 ist eine Reminiszenz an den gleichnamigen Supersportwagen von Maserati. Ihr ovales Handaufzugskaliber 2884 mit Chronograph und Tourbillon besteht aus 336 Komponenten einschließlich einem Paar Federhäuser. Seine Umdrehungszahl ist durch eine ausgeklügelte Arretiervorrichtung auf 19,75 beschränkt. Das gewährleistet ein weitestgehend konstantes Drehmoment bis zum nächsten Aufzugsvorgang und damit eine hohe Ganggenauigkeit. Außerdem verwenden die Uhrmacher von Audemars Piguet zur Herstellung der beiden Energiespeicher Edelmetalle wie Weißgold und Palladium. Dieser Kunstgriff reduziert den Energieverlust durch die Reibung der Zugfedern an Deckel und Boden, weshalb zehn Tage Gangautonomie gewährleistet werden können. Im Gegensatz zu diesen eher konventionell anmutenden Details verkörpern die Platine aus Karbonfaser sowie Brücken aus eloxiertem Aluminium einen Brückenschlag zur Moderne. Die Materialwahl macht das „Gestell“ ebenso stabil wie leicht. Klar, dass so viele Innovationen nach einem entsprechenden Design verlangen. In diesem Fall orientiert sich der Look am Heckmotor des Maserati MC 12. Zudem lässt das kunstvoll durchbrochene Zifferblatt mit appliziertem Dreizack keinen Zweifel an der voll und ganz beabsichtigten Liaison zwischen Automobil und Uhr aufkommen.

www.audemarspiguet.com
Auf zu neuen Manufaktur-Ufern

Im Frühjahr 2009 bezog Hublot sein neues Gebäude in Nyon nahe Genf. Die ersten Schritte sich zu einer richtigen Manufaktur mit eigenem Werk zu mausern, vollzogen sich indes noch in der alten Wirkungsstätte, wo Spezialisten mit Hilfe computergesteuerter Maschinerie wesentliche Komponenten des exklusiven Kalibers HUB 44 produzierten. Seine Geometrie und seine Aufbauten gleichen dem des bewährten Chronographenwerks Valjoux 7750. Material und Farbgebung der tragenden Teile unterscheiden sich dabei mehr als deutlich vom Original. Das zugehörige Kürzel heißt Ag5, ein Werkstoff, den auch Flugzeugbauer und Hersteller chirurgischer Instrumente erfolgreich nutzen. Die Legierung besteht aus Magnesium (5%), Mangan (2,3%) und überwiegend Aluminium. Der Effekt ist verblüffend, denn die komplexe Platine wiegt fast nichts. Nur 1,9 Gramm bringt sie auf die Waage. Das gesamte Gestell des 7750 à la Hublot ist sagenhafte 3,7 Gramm leicht, aber extrem stabil. Freilich besitzt auch Ag5 eine Achillesferse: Im Gegensatz zum herkömmlichen Messing ist das Material völlig unnachgiebig, so dass beim Abringen der Bohrungen für die Lochsteine eine Präzision im Tausendstelmillimeter-Bereich unverzichtbar ist. Entweder der Stein passt später in die Öffnung oder er tut es eben nicht. Darüberhinaus neigt Magnesium zur Korrosion. Diesem Umstand begegnet Hublot durch „Titanex“. Dieses galvanische Verfahren steigert die Härte der Ag5-Oberfläche von 200 auf rund 500 Vickers. Außerdem beschert es dem Uhrwerk und dem zugehörigen Gehäusekorpus der auf 250 Exemplare limitierten „Mag Bang“ die gleiche lichtgraue Farbe.

www.hublot.com
Uhrwerk voller Ideen

Omegas Weg in die Zukunft trägt die Referenz 8500. Das Automatikkaliber besticht durch eine Vielzahl interessanter Einfälle, welche teilweise sogar mit vermeintlich Optimalem radikal brechen. Beispielsweise kommt der Aufzugsrotor ohne das relativ laute Kugellager aus. Stattdessen dreht sich nun die Schwungmasse um ein Gleitlager mit wartungsarmem Zirkoniumstein. Neuartig ist auch die Getriebekette bis hin zu den beiden seriell geschalteten Federhäusern. Deren dunkle Farbe resultiert aus einer 2.000 Vickers harten Beschichtung aus DLC. DLC steht für „Diamond Llike Carbon“, also einem Kohlenstoff mit diamantähnlichen Härteeigenschaften. Ein völlig überarbeitetes Profil der Zahnräder und -triebe sowie ein neues, auf gezielter Forschung basierendes Schmierkonzept lassen die Reibung vom Rotor bis hin zum Sekundenrad gegen null tendieren. Bester Beweis für die Leistungsfähigkeit des Selbstaufzugs ist der Faktor 3,8, welcher bis zur Erreichung von 70% des Spannungsgrads der Zugfedern gilt. Mit anderen Worten: Eine Minute Aufzug bewirkt Federkraft für 3,8 Minuten Gangdauer. 24 Stunden Gangautonomie sind also bereits nach weniger als sechseinhalb Stunden erreicht. Hinzu gesellt sich eine völlig überarbeitete koaxiale Ankerhemmung mit flacher Silizium-Unruhspirale. Die schwarze Unruh aus „Teclaphor“, einer neuen, temperaturstabilen aber geheim gehaltenen Legierung ohne das giftige Beryllium, besitzt innen liegende Weißgold-Regulierschrauben und geschwungene Speichen sowie ein hohes Trägheitsmoment von 21 mg.cm².

www.omegawatches.com
Einmalige Materialvielfalt

Mit der Zukunft tickender Uhrwerke haben sich auch die Techniker von Jaeger-LeCoultre beschäftigt. Das Resultat ihrer Bemühungen wurde „Master Compressor Extreme LAB“ getauft. Dieser Armband-Tourbillon lässt sich in arktischer Kälte und brütender Wüstenhitze gleichermaßen ohne den Einsatz von Ölen nutzen. Das Automatikkaliber 988C steckt voller Neuerungen, so wurde die Unruh aus einer Platin-Iridium-Legierung gefertigt und Masselotte-Schrauben gestatten die Veränderung des Trägheitsmoments. Die ungewöhnliche Geometrie in Form eines Doppel-T und das hohe spezifische Gewicht des Werkstoffs minimieren die Oberfläche, mindern so die Luft-Reibung und den Energiebedarf der Schwingungen. Ein Hemmrad aus Silizium kooperiert auch ohne Öl optimal mit Ankerpaletten aus synthetisch schwarzem Diamanten. Das ungewöhnliche Schwing- und Hemmungssystem arbeitet in einem ultraleichten Tourbillon-Käfig aus Magnesium. Im Federhaus sorgt ein neuartiges Graphitpulver für reibungsarmen Lauf der Dinge. Weder Temperaturwechsel noch Feuchtigkeit nehmen Einfluss auf die Viskosität. Beim Aufzugsrotor mit wartungsfreien Keramikkugellagern trägt das Karbonfaser-Chassis eine massereiche Platin-Iridium Schwungmasse. Den Aufzugs- und Stellmechanismus beschichtet die Manufaktur mit Nickel-Polytetrafluoräthylen, einem besonders gleitfähigen Material. Schließlich bestehen die Lagersteine aus „Easium” und die Zentralbrücke aus „Ticalium”, einer Aluminiumlegierung mit Titankarbid-Beimischung. Summa summarum wirken in diesem Uhrwerk 307 Teile zusammen, geschützt durch ein „heavy-duty-Gehäuse“ aus Karbonfaser, Titan Grad 5 und Silizium-Carbonitrid.

www.jaeger-lecoultre.com


Gisbert Brunner beschäftigt sich seit 1964 mit Armbanduhren, Pendeluhren und Präzisionszeitmessern. Während der Quarzkrise in den 1970-er Jahren wächst die Liebe zu den anscheinend aussterbenden mechanischen Armbanduhren. Ein leidenschaftliches Sammelhobby führt ab den 1980er Jahren zu zahlreichen Artikeln und Büchern über dieses Metier.

Text: Gisbert L. Brunner
Fotos: Hersteller



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