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Mille Miglia 2012: Rallye-Notizen aus dem Cockpit

Mille Miglia 2012: Rallye-Notizen aus dem Cockpit

Einmal als Teilnehmer die Mille Miglia fahren! Das ist der Traum vieler Oldtimer-Enthusiasten weltweit. Doch die Rallye ist kein Spaziergang. Die Etappen haben es in sich und messen zusammen etwa 1.000 Meilen Strecke. Zu fahren an zweieinhalb Tagen: auf Landstraßen, Schotterpisten und Gassen, durch Orte und Städte, garniert mit zahlreichen Wertungsprüfungen: Notizen aus dem Classic Driver Rallye-Tagebuch.

Mittwoch, 16. Mai 2012 – the day before

Ankunft in Mailand. Entspannter Transfer im neuen XJ Supercharged nach Brescia. Je näher wir der Stadt kommen, desto mehr Mille Miglia liegt in der Luft. Der rote Pfeil schmückt Häuser, Kreuzungen und Straßen. Überall wuseln Klassiker und Teilnehmerfahrzeuge durch die Stadt. Öl- und Benzinschwaden wehen durch die Gassen. Tifosi schwenken Fahnen. Die ersten Mille-Freunde richten sich entlang der Verbindungsstrecken ein. Wir fahren erst einmal ins Hotel und dann rüber in die Fiera di Brescia, der Messehalle, zum Scrutineering. Anmeldeformalitäten, Papiere aufnehmen, Rennlizenz prüfen und Startzeiten notieren. Großer Fahrzeugcheck. In der Messe versammeln sich alle Teilnehmer-Fahrzeuge zur technischen Abnahme. Und für einen Tag zur wohl feinsten Oldtimersammlung der Welt. 375 Klassiker unter einem Dach – was für ein Anblick. Auch die Jags sind da. Zum ersten Mal nehme ich in unserem Battleship grauen Mk VII mit dem Kennzeichen LHP 5 Platz. My godness, was für ein Kreuzer! Genau dieses Auto hat vor rund 60 Jahren die Monte Carlo gefahren und wurde jetzt von JD Classics in nur zwei Wochen für die Mille Miglia fit gemacht. Mein Partner und Pilot, Frank Klaas, konnte den Seven in UK schon einmal Probe fahren. Sein Urteil: „Das Big Baby geht richtig gut!“

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Abends dann mit allen Jaguar Teams zum festlichen Dinner im Ristorante La Sosta in der Altstadt von Brescia. Fackeln vor alten Mauern. Sprachfetzen auf Italienisch, Englisch, Französisch, Spanisch, Deutsch. Begeisterung. Innen Dinner-Atmosphäre wie aus dem Bilderbuch. Rosso. Bianco. Alles Mille Miglia! Ein Toast nach dem anderen. Rennfahrer-Ass Sir Stirling Moss und Testfahrer-Legende Norman Dewis sind dabei. Und gut gelaunt wie eh und je. Anekdoten und Stories. Gruppenfoto. Was für ein Auftakt!

Donnerstag, 17. Mai 2012 – Nachtetappe von Brescia nach Ferrara

Die Nacht war kurz. Die Spannung steigt. Heute geht‘s los! Toller Spirit im gesamten Jaguar Team. Die Mechaniker sind schon lange bei den Autos. Sechs Fahrzeuge gehen für Jaguar Heritage Racing auf die Strecke. Drei C-Type, zwei XK 120 und unser Mark VII. Alles Legenden. Alles Originale. Sir Stirling und Norman Dewis werden mit dem mintgrünen C-Type MDU 212 die Mille Miglia eröffnen. Bernhard und Johann fahren den grünen C-Type. Charlie und Ben sind im bronzefarbenen XK 120 FHC unterwegs. Ein Hammer-Auto. Hans und Peter pilotieren den schwarzen 120er OTS Jag. Very cool! Top Gear Charlie und Ken steuern den dritten C-Type. Frank und ich haben das Schlachtschiff LHP 5 unter dem Hintern. Ich studiere schon mal das Roadbook. Mache mich mit dem Tripmaster vertraut und übe, vier Stoppuhren parallel zu bedienen. Ich ahne: das wird heftig! Das Mechanikerteam klebt die Startnummern auf unser Auto: 191.

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Mittags geht es rüber in die Altstadt von Brescia auf die Piazza della Loggia zum Versiegeln der Fahrzeuge. Alle Autos bekommen eine bleierne Plombe um die Lenksäule. Ein hoheitsvoller Akt. Und der Auftakt zur Mille. Tausende Menschen jubeln. Hunderte Journalisten und Fernsehteams halten die Kameras drauf. Becky Anderson von CNN interviewt uns: „Frank, how do you get along with such a brutal beast?“ Well... Wir nehmen uns Zeit für ein Briefing mit unseren Mechanikern Eric und Phil. Sie werden uns in einem Land Rover Discovery folgen. Sofern Sie mithalten können. Begleitfahrzeuge genießen nicht die inoffiziell gewährten Sonderrechte. Dann der Start auf der Viale Venezia. Sir Stirling und Norman Dewis geben Simon Kidston noch rasch ein Interview auf der Rampe. Dann geht es los! Abfahrt in enger Taktung. 190 Fahrzeuge vor uns. Der grüne Aston gast an. Brettert los. 19:48 Uhr. Unsere Startzeit. Die Fahne hebt sich. Ich drücke die erste Stoppuhr, nulle den Tripmaster. Frank gibt Gas. Der Bug hebt sich. Hinten knallt das Doppelrohr. „And off we are!“

Freitag, 18. Mai 2012 - von Ferrara nach Rom

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Wir eilen donnernd durch die Nacht. Gut 261 Kilometer misst die erste Etappe. Die ersten 100 Kilometer kommen wir gut voran. Wir stellen uns auf das Auto ein. Frank macht mächtig Druck. Der Respekt vor Roadbook und Tripmaster ist gewichen. Mit nicht für das Protokoll geeignetem Tempo über unbekannte und dunkle Landstraßen zu navigieren, ist eine erste Herausforderung. Wir meistern sie. Doch dann macht unser Jag Probleme. Zweimal geht er unvermittelt aus. Mitten im Renntross bei hohem Tempo. Was ist das? Die Vergaser schlürfen gierig, doch bekommen plötzlich keinen Sprit mehr. Der rechte Tank ist noch voll. Das kann doch nicht sein! Um Mitternacht rollen wir schließlich am Straßenrand aus. Ich rufe unsere Mechaniker Eric und Phil über das Cell. Die 200er Startnummern donnern vorüber. Die Nacht umfängt uns. Endlich kommt der Disco, unsere rollende Werkstatt. Die Diagnose ist verheerend: beide Benzinpumpen müssen raus und der frische Filter gewechselt werden. Wir raufen uns die Haare, während Phil den Wagen aufbockt und das Schrauben beginnt.

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Gegen 01:00 Uhr nachts: Alle Autos sind an uns vorbei. Wir sind die letzten. Frank ist sauer. Und ich offen gestanden noch fasziniert von der nächtlichen Reparatur. Denn plötzlich bellt der Motor auf. So als wolle er zubeißen. Der Jag läuft wieder. Phil sei Dank. „You are ready to go!“ kommentiert er mit sich überschlagender Stimme. Wir schwingen uns auf die Ledersessel. Und machen uns an die Aufholjagd. Frank knallt die Gänge in die Moss-Box und scheucht den Wagen durch die Nacht dem fernen Ferrara entgegen. Es muss noch zu schaffen sein. Dann endlich: Wir kommen ins Ziel - wenn auch mit Verspätung. Aber wir sind da! Und überreichen unseren Mechanikern das Auto und einen Arbeitszettel für die Nacht: Zündkerzen, Bremsen, Kupplung – alles muss noch nachgesehen werden.

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Am nächsten Morgen steht 191 abfahrfertig im Paddock. Andere sind bereits ausgeschieden. Motorschaden, Getriebeschaden, Kaltverformung. „Mille basta!“ kommentiert ein zahnloser italienischer Opa mit Strickjacke und Miglia Kappe. Nicht so bei uns. „Tutto bene!“ Daumen hoch deuten uns die Mechanics. Um 09:03 starten wir durch die Lichtschranke. Auf geht's. Ravenna, San Marino, Sansepolcro und Spoleto liegen vor uns. Erwartete Ankunft in Rom: gegen 22:00 Uhr. Unterwegs die ersten Wertungsprüfungen. Wir meistern sie. Von Mal zu Mal besser. Doch dann das: der linke Tank entlüftet in die Kabine. Und wie. Wir reißen alle Fenster und das Schiebedach auf. Es hilft nichts. Meine Augen tränen. Ich sehe nichts mehr. Wir müssen den Medical Service rufen. Am Auto angelehnt, bekomme ich eine Augenspülung und ein Anti-Allergikum. Ken aus dem C-Type gibt mir noch seine geschlossene Rennbrille. Verdammt, wir verlieren Zeit. Wir müssen weiter! Frank schont den Mark VII nun nicht mehr. Trotzdem achtet er auf Sicherheitsreserven. Ein Profi am Volant. Den Zuschauern gefällt's. Wir ernten Beifall und fassen wieder Mut. Dann später, viel später: Rom. Die ewige Stadt. Unsere Ankunft. Was für ein Spektakel. Polizei-Eskorte durch Stadt. CNN filmt das Jaguar-Rudel Car to Car. Irre. Um 03:30 Uhr fallen wir ins Bett. Und die Mechaniker fangen wieder mit ihrer Arbeit an.

Samstag, 19. Mai 2012 – von Rom nach Ferrara

Um 05:30 Uhr klingelt der Wecker. Der heutige Tag soll der heftigste sein. Sagen die erfahrenen Mille Miglia Fahrer. Über 750 Kilometer liegen vor uns. Und die restlichen der insgesamt 54 Wertungsprüfungen. Phil hat über Nacht eine neue Tankentlüftung gebastelt, die Bremsen gecheckt, am Getriebe geschraubt, die Kupplung justiert. Und 50 Minuten geschlafen. Trotzdem scheint er topfit. Ich bin es noch nicht. Eine Batterie doppelter Espressi hilft. Ich justierte die Uhren, den Tripmaster und meine Roadbook-Notizen. Die Gurte klicken. Frank streift die Rennhandschuhe über. Dann zeigt die Uhr 07:33. Unsere Startzeit! Wir rollen an. Der Jag röhrt. Er will raus zur Jagd.

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Am frühen Morgen mit einem zornig klingenden Jaggeschwader über Rom herzufallen, ist – Entschuldigung – einfach nur… genau das! Wir meistern Prüfung nach Prüfung. Und sammeln Glücksmomente mit jedem Kilometer. Der Jaguar hat sich jetzt eingelaufen. Wir haben Boden gutgemacht und nehmen die nächsten Streckenpunkte mit Begeisterung: Viterbo, Radicofani, Siena, San Casciano Val die Pesa. Dann Florenz. Stillstand. Hupen. Wendeversuche. Nichts geht mehr. Warum das? Fünfhundert Meter vor uns soll jemand in der Gasse kollabiert sein. Vollsperrung. Zwangspause. Wir verlieren Zeit. Wertvolle Zeit. Zehn Minuten, zwanzig. Eine halbe Stunde. Vierzig Minuten. Das darf nicht wahr sein! Die Zeit bekommen wir nicht zurück.

Dann endlich geht es weiter. Jetzt aber Tempo. Die Toskana. Die Straße schlägt Haken. Wir bügeln auf Ideallinie durch. Links, rechts, rauf, runter. Die Sonne über uns. Fahrtwind im Auto. Und der Sechszylinder bläst infernal. Metallisch. Wild. So soll es sein. Der Jaguar hat jetzt Muskeln und Sehnen trainiert, rennt wie der Teufel. Wir fliegen über den Passo della Futa und über den Raticosa. Ich rechne unsere Tankstopps durch. Bei 40 Liter pro Tank und 100 Kilometer Reichweite – Franks flottem Tempo sei Dank – müssen wir recht häufig die Säule aufsuchen. Das Auto bekommt Benzin. Wir Espresso. Doch dann auf der L'Eroica Prüfung über staubige Schotterpisten steht plötzlich ein Servicewagen quer. Kostbare Sekunden verstreichen. Schon wieder Stress. Der Kies fliegt, als wir über den Schlauch zur Messung fahren. Ich komme mir derweil wie ein Stoppuhr-Virtuose vor. Und Frank vertraut meinen Ansagen blind, konzentriert sich ganz aufs Fahren. Echte Teamarbeit. Ab dafür nach Bologna und Modena. Auf der Rennstrecke von Fiorano fahren wir unsere letzte Wertungsprüfung. Mittlerweile ohne Abweichung vor dem Komma. Und dann geht es in den hereinbrechenden Abend nach Parma und Cremona. Wir warten auf eine XK-Crew am Stadtrand von irgendwo. Die kommen nicht. Dann der Anruf: „We will not do it and have decided to take the Autobahn!“ Klasse – 20 Minuten umsonst gewartet. Wertvolle Zeit vertrödelt. Jetzt gilt es!

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Tutto gas! Die vier Trommelbremsen unseres Mark VII sind längst über ihren Zenit. Frank reguliert unsere Fahrt verlässlich mit dem Gas. Zeitweilige Motorrad-Eskorten der Polizei helfen. Es ist längst Nacht, als wir endlich nach gemessenen 1.500 Kilometer in Brescia ankommen. Fix und fertig. Und doch überglücklich. Staub im Gesicht. Öl an den Händen. Dreck unter den Fingernägeln. Doch was ist das schon gegen diejenigen, die das alles im offenen Rennwagen meistern mussten? Irgendwann gegen 02:00 Uhr rollen wir auf der Viale Venezia über die Zielrampe. Frank und ich hören unsere Namen. Gratulation! Applaus! Wir sind im Ziel! Endlich! Doch im Hotel geht es weiter. Bis um 04:00 Uhr in der Nacht oder am frühen Morgen. Zeit ist relativ.

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Sonntag, 20. Mai 2012 – der Tag danach

Der Wecker klingelt heute nicht. Dafür reisst mich gegen 05:30 Uhr das Erdbeben im nahen Bologna kurz aus dem Schlaf. Doch wie von einem Stein getroffen, schlafe ich gleich darauf weiter. Bis um 12.00 Uhr. Wach werden mit Espresso. Und Endorphinen in allen Leitungen. Was für eine Tour! Die Mille Miglia 2012 ist vorüber. Wir sind auf Platz 183 gelandet. In Anbetracht unserer Pannen und dem beinahe Ausscheiden sind wir damit mehr als zufrieden. Auch der Jag ist heil geblieben. Kein Kratzer! Die anderen fünf Heritage-Fahrzeuge sind es auch. Alle sind glücklich und erleichtert. Farewell, farewell! Die Maschinen fliegen uns ab Mailand wieder zurück in den Alltag. Die Mille Miglia ist und bleibt ein Traum. Glücklich, wer ihn erleben darf.

Text: Mathias Paulokat
Fotos: Stuart Collins