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Magazin

Bentley Arnage T (2)

Spießrutenlauf in Bellágio

Vor und hinter mir kein Auto - ich beschleunige. Abrupt hievt der V8 die 2,6 Tonnen schwere Limousine in eine andere Geschwindigkeitsregion. Sofort fällt mir der nochmals kultiviertere Motorlauf im Vergleich zum den älteren Arnage V8 auf, die noch mit einem großen Garrett T4 Turbolader versehen waren. Die nun verwendeten zwei kleineren T3 Lader je Zylinderbank sorgen im Zusammenspiel mit perfekt justierter Elektronik für sehr harmonische Leistungsentfaltung. Respekt! Langsam werde ich mutiger und merke, dass der Wagen selbst bei schneller Kurvenfahrt meilenweit von seinem Grenzbereich entfernt zu sein scheint. Vor allem erstaunt der große Komfort, den der Wagen trotz straffer Fahrwerksauslegung offeriert. Fahrbahnunebenheiten und wechselnder Fahrbahnbelag werden ebenso souverän verdaut, wie schnelle Lenkkorrekturen weltlicher Kreaturen beim zu spätem Bemerken hinterhältiger Kurven. Fasziniert rausche ich dahin und fühle mich immer wohler mit dem Koloss. So bemerke ich nicht, dass ich längst das Ortsschild von Bellágio, einem auf einer Landzunge des Comer Sees gelegenen Ortes, passiert habe und viel zu schnell unterwegs bin.

Schon passiert: Die Polizei steht mit Kelle am Straßenrand und winkt mich raus. Aber nein - sie winkt mir zu...? Zwei schick livrierte Carabinieri freuen sich für mich und mein Gefährt. Während der eine grüßend an seine Mütze tippt, weist sein Kollege gutgelaunt den Weg zurück zur Straße. Das ist ja ein feiner Zug, wundere ich mich und folge der Beschilderung zum Grand Hotel Villa Serbelloni, wo ich mir ein kühles Blondes auf der Terrasse einbilde. Doch zwischen mir und dem Hotel liegt die Altstadt, welche tagsüber bestenfalls Anlieger befahren sollten. Schon beim Einbiegen in die enge Gasse jagen mir Heerscharen von Fußgängern kalte Schauer über den Rücken und ich habe das Gefühl, eine ziemliche Dummheit zu begehen. Was habe ich hier zu suchen? Wegen eines Bieres Menschen in einer winzigen Fußgängerzone mit einem solchen Angeberschlitten zum Ausweichen zwingen?

Rückwärts geht nicht mehr; ich schäme mich für diese Entscheidung in Grund und Boden! Doch was passiert? Ich blinzele in lachende Gesichter, und plötzlich applaudieren einige Passanten! Ja sogar gewunken wird und ich bekomme das Gefühl, dass man sich über den Bentley freut und gern beiseite tritt. Also lege ich mein dankbarstes Lächeln auf und zirkle von großen Augen begleitet vorsichtig aus dem engen Sträßchen. Geschafft! Ohne Schramme an Mensch und Wagen, ohne böse Worte und somit ohne Gesichtsverlust. Den Sympathiecheck, bin ich sicher, hat der Wagen damit bestanden. Da kommt der Ober mit meinem Kaltgetränk. Und dieses brauche ich jetzt dringend!

Bergfeix

Die Überfahrt über den Comer See nach Varenna ist eine Sache für sich: Der Fahrkartenverkäufer sieht sich außerstande, das Ticket auf herkömmliche Weise durchs Fenster seiner Bude zu verkaufen, sondern besteht auf Übergabe am Fahrzeug. Natürlich nicht ohne sich von einem Kollegen mit dem Arnage fotografieren zu lassen! Schöner Nebeneffekt - ich zahle die Überfahrt für ein Motorrad...!

Bentley Arnage T (2) Bentley Arnage T (2)

Die Zeit drängt, ich will ins Münstertal. Über die Schnellstraße erreiche ich Chiavenna, biege ab und spule problemlos die Kilometer bis zum Fuß des Malojapasses ab. Dieser führt hinauf ins Engadin und gilt gerade bei Bikern aufgrund der Straßenführung als Herausforderung. Jetzt wird's spannend! Beim zweiten Gang sperre ich das Automatikgetriebe, rausche in die erste, lang gezogen Kurve und beschleunige mit Vollgas heraus. Ein Porsche 911 steht als erstes auf dem Speiseplan: Das Triebwerk brummt, legt Drehzahl zu, brüllt. Zwei Sekunden später kündet bassiges Grollen der Auspuffanlage von Volllast. 875 Nm Drehmoment atomisieren die letzten Zweifel an der Daseinsberechtigung des alten 16-Ventilers und treiben mich am reichlich verdutzten Fahrer vorbei.

Bentley Arnage T (2) Noch im zweiten Gang befindlich wütet das Urviech bergan, um bei 4.100 Touren satte 465 PS in den Antriebsstrang zu pressen. 2,6 Tonnen losgelöst von Raum und Zeit pflügen gen Maloja. Bei 4.600 Umdrehungen unterbricht eine Getriebesicherung den Vortrieb im zweiten Gang und wuchtet die Viergang-GM in den Dritten. Doch die erste Haarnadelkurve lauert auf das Monster. Oder ist es andersrum? Zeit, anzubremsen. Noch vor der Kurve gebe ich wieder Gas und treibe den Wagen um die Ecke. Doch diesmal greift das ESP ein und unterbindet durch begrenzte Abgabe der Kraft den Schlupf der Hinterräder. Bis der Arnage den Schock verdaut hat, dauert es kurz. Und je länger ich das gleiche Spielchen treibe, desto länger werden subjektiv die Zeiträume, die das elektronische Helferlein braucht, um sich von meinen Extravaganzen zu erholen. Als ich oben am Pass ankomme, bin ich von der geringen Wankbewegung der Karosse zwar begeistert, doch scheint der Knabe arg geschunden. Der Druck aufs Gaspedal hat Beschleunigung zur Folge, aber kein williges Hochschalten der Gänge. Von Kickdown-Funktion ganz zu schweigen. Will Godzilla verschnaufen? Kann er haben...

Bündner Wurst und Arvenholz



Kurz nach Maloja führt ein steiler Sandweg nach Pila hinauf. Dort befindet sich Reto Giovanolis kleine Bergbauern-Metzgerei. Ob Hirschsalsiz, Bünder Fleisch oder die sehr geschmackvolle, luftgetrocknete Rindsleberwurst - alles ist aus eigener Produktion, ja sogar teilweise aus eigener Aufzucht und somit immer einen Abstecher wert! Reto lacht, als ich vorfahre. Denn immer, wenn ich bei ihm einkaufe, komme ich mit einem anderen, verrückten Auto. Auch bei diesem sind ein Bild und ein Blick unter die Motorhaube fällig. Und das Probesitzen bringt mir sogar eine Salami ein! Kein schlechter Deal, freue ich mich und verabschiede mich von dem kleinen Weiler unterhalb des Passo Lunghin.

Bentley Arnage T (2) Bentley Arnage T (2)

Wieder auf der Landstraße merke ich dem Arnage kein Wehwehchen mehr an und so fliegt alsbald St. Moritz an mir vorbei. Wer hat nur all die hässlichen Gebäude genehmigt? Da macht die Tankstelle einen besseren Eindruck. Vor allem aufgrund der freundlichen Preisgestaltung, von welcher Ausländer nur träumen können. Günstiges Superbenzin flutet den 100 Liter Tank, doch währt die Freude nur kurz. Eine Überschlagsrechnung offenbart nach meiner forcierten Fahrweise einen Verbrauch von gut 27 Litern/100 km. Zünftig! Aber welcher Gewichtheber lebt schon von einem Schälchen Nudeln?

Via Zernez und Ofenpass erreiche ich entspannt das 70 Einwohner kleine Lü oberhalb von Fuldera. Die kleinste politische Gemeinde der Eidgenossenschaft wartet mit dem Gasthof Hirschen auf, in welchem mir Wirtin Erika schon eine duftende Arvenholzstube gerichtet hat. Nach Hauswein und deftiger Jause ist das ein Tagesausklang nach meinem Gusto...

Den dritten und letzten Teil der Bentley Arnage T-Testfahrt lesen Sie nächte Woche bei Classic Driver. Für den ersten Teil klicken Sie bitte hier:

Alpines Powerplay – Teil 1
Extremsportler bewegen sich in dünner Luft, sind sie doch stets mit abverlangten Höchstleistungen konfrontiert. Was bei Sportskanonen üblich ist, gilt auch für Hersteller wie Bentley. Ulrich J. Lehmann begab sich für Classic Driver mit dem aktuellen Arnage T auf Testfahrt. Der Muskelprotz wurde über Pässe gescheucht, auf Autobahnen getrieben und an romantischen Küstenstraßen präsentiert. Mit erstaunlichen Ergebnissen...weiter >>

Der Autor: Ulrich J. Lehmann ist freier Journalist und schreibt unter anderem für die Rolls-Royce- und Bentley Zeitschrift „Alpine Eagle“ des Rolls-Royce Enthusiasts’ Club Schweiz. Schwerpunkte seiner Arbeit bilden Beiträge und Testberichte über neue Produkte der beiden Englischen Marken. Privat kümmert sich der Münchner um seinen Silver Shadow II und organisiert Rallyes und Ausfahrten mit Enthusiasten. Kontakt zum Autor: [email protected]

Text: Ulrich Lehmann
Fotos: Ulrich Lehmann & Christoph Engler


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